Die Angst vor dem Fremden

Untersuchungen haben ergeben, dass ein Baby ab dem zweiten Monat auf Gesichter reagiert und zwar mit einem Lächeln. Jedoch spricht man hier noch nicht von einer sozialen Reaktion, da das Baby nicht unterscheiden kann, zwischen einem echten Gesicht und einer Attrappe, auf der Stirn, Auge und Nase dargestellt sind.
Erst zwischen dem sechsten und achten Monat wird das Kind fähig Gesichter wirklich zu erkennen. Interessanterweise merkt man dies daran, dass da Kind nur bei bekannten Gesichter lächelt. Auf fremde Gesichter reagiert es jetzt mit Angst und einer deutlichen Kontaktverweigerung. Diese Angst tritt anscheinend kulturunabhängig auf und steht auch in keinem Zusammenhang mit schlechten Erfahrungen mit Fremden. Für Entwicklungspsychologen sind hier die wichtigen Aspekte, dass das Kind Gesichter vergleichen und einordnen kann und dass es eine deutlich sichtbare Bindung zur Bezugsperson aufbaut.
Aber was bedeutet es, dass ein Baby in dem Moment, in dem es fremd und bekannt unterscheiden kann, auf das Fremde mit Angst reagiert?
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One ring to rule them all

Man sehe mir den naheliegenden Einstieg nach, denn es soll nicht vom Niedergang Gollums die Rede sein, sondern vom Aufstieg des Gyges vom Ziegenhirten zum Alleinherrscher Lydiens:
Durch eine seismische Anomalie und seine Neugier gelangte er in den Besitz eines goldenes Ringes, der ihm die Macht verlieh, unsichtbar zu werden, wann immer er ihn drehte. Durch diese seltene Gabe wurde er schnell Abgesandter des Königs, hierdurch wiederum noch nicht zufrieden: Er verführte zunächst die Königin und ermordete zuletzt den Regenten selbst, um nach dem Weib auch den Thron für sich zu haben.

Sokrates erzählt diese Geschichte um zu illustrieren, dass die Furcht vor Strafe die eigentlich moralische Haltung sei: Die Ungerechtigkeit, so Sokrates, halte Jedermann für vorteilhafter als die Gerechtigkeit. Wenn er (oder sie) also sicher sein könnte, nicht für begangenes Unrecht zur Rechenschaft gezogen zu werden, würden der augenscheinlich Gerechte und der Ungerechte gleichermaßen ohne Rücksicht nur nach dem eigenen Vorteil streben.
Wenn ein Mensch, dem solche Macht gegeben ist, nie Unrecht täte, so würden die Menschen öffentlich seine Rechtschaffenheit loben, doch insgeheim den Kopf über ihn schütteln.

Wer kennt sich gut genug, um zu wissen, wie er handeln würde, wenn er nicht einmal fürchten müsste, für seine Untaten verachtet zu werden; Wenn kein Gesetz und keine soziale Kontrolle ihn mehr fesseln?
Wer ließe sich nicht von der absoluten Freiheit verführen?

Platon: Politeia, 359c – 360c

Freundschaft in der Feindschaft

Gemeinhin sind die Begriffe Freundschaft und Feindschaft solche, die sich gegenseitig ausschliessen. Kaum würde jemand behaupten, sein Gegenüber wäre gleichzeitig Freund und Feind.

Doch auch in der erbittertsten Feindschaft schwingt leise die Freundschaft mit, während die Säbel rasseln. Denn wann wird ein Mensch zu meinem Feind? In dem Moment, in dem ich es ihm gestatte, in dem Moment, in welchem ich ihn als solchen anerkenne und anerkenne, dass er mich als solchen anerkennt. Welchen Menschen kann ich überhaupt als Feind anerkennen? Wohl nur den, dem ich gestatte, mich in Frage zu stellen.
Leise und unbemerkt verweilt eine Vorstufe der Freundschaft, in der Gemeinschaft derer, die sich gegenseitig gestatten sich in Frage zu stellen und sich gegenseitig als Feind anerkennen. Sie bilden in ihrer Feindschaft und ihrem Austausch eine Gemeinschaft, die noch nicht Freundschaft ist – und merken es nicht.

Womöglich sind die Begriffe von Freundschaft und Feindschaft doch nicht so trennscharf, wie sie auf den ersten, unbedachten Blick erscheinen.

nach Derrida, Jacques. Politik der Freundschaft. Frankfurt: Suhrkamp Verlag (2002): Kap. 6

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert. mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor.

– Faust

In: Goethe. Faust. V. 354-9