Über Robert Musils Möglichkeitssinn

Nur eine Frage, so schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, lohne das Denken wirklich: jene nach dem rechten Leben.

Nun ist unsere Gesellschaft nicht arm an Vorstellungen, wie dieses rechte Leben auszusehen habe. Unserer Gesellschaftsordnung liegt die Freiheit als zentraler Wert zugrunde und so ist sie ganz im Gegenteil sogar die vielleicht reichste an angebotenen Lebenskonzepten. Pluralisierung der Lebensstile nennt dies die Soziologie.
Mit ihrer Vielseitigkeit, die von eher Konservativen als unheilvolles Chaos beargwöhnt werden mag, verliert die Gesellschaft jedoch keineswegs an Ordnungsmacht, sie spezifiziert sie lediglich für ihre Subsysteme, Klassen, Schichte, Wertcluster – wie immer man sie auch bezeichnet.

Die Vorstellung einer Gesellschaft mit einem einheitlichen Ordnungsprinzip, den christlichen Glaubensgrundsätzen etwa, ist der Auffassung eines sozialen Gefüges gewichen, das vielfältig differenziert ist. So viele Antworten es auf die Frage nach dem rechten Leben in unserer Gesellschaft gibt, die zwar nicht alle, aber zumindest eine Vielzahl von Lebenskonzepte zulässt, so wenig gibt es folglich eine Antwort. Es kann sie ohne streitbare Voraussetzungen nicht geben – und nicht nur Musil bleibt sie uns daher schuldig.

Gemein ist ihnen zumindest jedoch eines: Im Schatten des Gegenstandes, also des „rechten Lebens“, nach welchem Musil fragt, liegt die eigentliche Übereinkunft: Das Denken.
Vom Denken selbst gibt es eine präzise Vorstellung, oder vielmehr weiß jeder, was das rechte Denken ist: lineares, logisches deduktiv/induktiv schließendes Denken, wie es den Wissenschaften zu ihrem Siegeszug verholfen hat, den es, geradezu über sie hinaus, von dort aus in alle Lebensbereiche hinein fortsetzt.
Dieses Denken wiederum entspricht nicht Musils Vorstellungen vom Leben, und in der Tat ließen sich zahlreiche Aspekte des Lebens aufzählen, welchen wissenschaftliche Erörterung nicht eben gut zu Gesichte steht. Problematisch sei nicht so sehr, dass allzu gefühlsbetonte Beiträge im wissenschaftlichen Diskurs nicht gern gesehen sind, sondern vielmehr, dass das Leben eben kein wissenschaftlicher Diskurs ist, was nur zu gern vergessen wird.

Musil entwirft in seinem Roman den ganzheitlichen Entwurf des utopischen „andere Zustands“ gegen die allgemeine Art des Denkens, um die Spaltung von Denken und Leben zu überwinden und eine Entwicklung des Gefühlslebens und die Erschließung neuer Lebensgehalte zu erreichen.

Dieser Andere Zustand ist kaum anders als ex negativo zu beschreiben: Er bezeichnet die Lösung von den Dualismen, dem faktenverliebten Alltagsdenken, dem linearen Entwicklungsgedanken. Er ist zu denken als eine Art von nicht-zeitlicher Metamorphose: Was ist ist nur eine Form unter Tausenden. Jede andere mögliche Vorstellung des Seins ist ebenso real, relevant und denkbar.
Musil hat die Idee eines Möglichkeitssinns der vorstellbar ist als die „Fähigkeit, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.“

Musils Anliegen ist weder gering und bescheiden: Öffnung und Ausbruch aus dem eindimensionalen, rationalen Denken, zugunsten einer Pluralität anderer Denkformen, um „immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variablen zu entdecken, Prototypen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann“.

Anm.: ex negativo – wörtl. aus dem Negativen, in Abgrenzung, durch Ausschluss; (z.B. schwarz ist nicht weiß, nicht farbig.)

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Reinbeck, 1981
Pekar, Thomas: Ordnung und Möglichkeit. Oldenburg: Universitätsverlag, 1990

2 Antworten auf „“

  1. so mancher möglichkeitsentwurf lässt sich leider nur unschön in die tat umsetzen – aber solange es sich lediglich um wirklichkeitsentwürfe auf dem papier handelt wie bei musil, nur zu… (auch wenn ich mancherorts im mann ohne eigenschaften den verdacht nicht loswerde, es handele sich überwiegend um eine art sexueller emanzipation/freiheit?)

    grundsätzlich zum denken: das unbekannte mit dem bekannten darzustellen, darin liegt die kunst. und bei aller freiheit muss man sich an die geltenden physikalischen gesetze halten, irgendwie

  2. So weit ich Musil verstanden habe, geht es ihm nicht so sehr darum, dass die Möglichkeiten realisiert werden, sondern mehr darum sich weiterhin (in) Alternativen denken zu können.

    Nach einem Blick durch das Fenster zur Welt bekommt man nur zu leicht den Eindruck, dass das alles determiniert sei, so gewachsen, vorläufiges Endprodukt einer nicht abreißen wollenden Kette von Ursachen und Wirkungen – und gegen diese Vorstellung wehrt er sich.
    Was mich daran, also am Roman wie an der Konzeption des Möglichkeitssinns, fasziniert hat und noch immer fasziniert, ist die ungeheure Freiheit die darin angelegt ist: So kausal bedingt und notwenig ist keine Entwicklung, dass sie nicht ebensogut anders sein könnte – und nichts ist zwangsläufig so oder so.

    Was den Eindruck der Ulrich & Agathe Geschichte im Mann ohne Eigenschaften angeht (ich denke darauf spielst du an) bist du damit nicht allein: Pekar fragt in seinem Essay (s.o.), warum wir 400 Seiten über die Liebesgeschichte der beiden lesen müssen (und mir ging bei der Lektüre zuweilen Ähnliches durch den Kopf).
    Er sieht den Grund dafür letztlich in der "anderen Sozietät" zwischen den Zweien: Diese Beziehung ist in jeder Hinsicht a-sozial, sie würde nicht geduldet werden, weil es immerhin Bruder & Schwester sind, sie gleichen einander (oder vervollständigen sich, je nachdem, wie man das sehen möchte), und bilden so eine Gemeinschaft, ein Wesen, das fern von allem anderen und nur für sich steht.

    Für mich hatte diese Liebesgeschichte recht deutlichen Traumcharakter, die Inselvisionen usw., sehen ja sehr deutlich nach "anderer Realität" aus, ein Leben außerhalb der Welt mit ihren Normen, Gesetzen und ihrem Anspruch darauf, alles erklären und alles regeln zu können.
    Das Sexuelle hat da sicher seinen Platz, steht aber für meine Begriffe nicht so sehr im Mittelpunkt.

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