Gibt es eine umfassende Interpretation?

Jede Interpretation verfügt über einen Blickstand, eine Blickhabe und eine Blickbahn.

Der Blickstand wird vom Interpreten eingenommen und ist abhängig von seiner Lebenssituation, seine Lebenssituation orientiert sich wiederum am Zeitgeist seiner Zeit, der sozialen Verfasstheit der Gesellschaft etc.
Die Blickhabe bezeichnet nichts anderes, als die thematische Vorbestimmung der Auslegung durch den Interpreten. Betrachtet er z.B. den Text als eine ethische Schrift, ein politisches Manifest oder eine anthropologische Untersuchung?
Die Blickbahn ist abhänig von der Frage der Interpretation, also das, was der Interpret im speziellen offenlegen will.

Stimmt man den obigen Punkten zu, wird es niemals einen gänzlich ausgeforschten Text geben, da sich endlose Kombinationsmöglichkeiten von individuellen Blickständen, Blickhaben und Blickbahnen ergeben – allein schon aus dem profanen Grund, dass sich der Blickstand stets mit der Zeit verändern wird. Keine Interpretation sollte folglich einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da sie selbst immer speziell ist und befangen durch ihren Blickstand, ihre Blickhabe und ihre Blickbahn.
Wie wäre es auch sonst zu erklären, dass wir stets neue wissenschaftliche und erhellende Arbeiten über zweitausend Jahre alte Texte vorfinden, wobei die Texte schon seit hunderten von Jahren erforscht werden?
Es bleibt die Frage, ob wir den Text jemals annähernd unter dem Blickstand, der Blickhabe und der Blickbahn des Autors sehen können, oder ob dies für uns immer ein Geheimnis bleiben wird.

nach Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Hrsg. von Günther Neumann. Frankfurt am Main: Reclam Verlag. (2002): S. 5-6

2 Antworten auf „Gibt es eine umfassende Interpretation?“

  1. Und hier lässt sich nicht nur das Methodendenken der Neuzeit mit der Sachorientierung der Antike vereinbaren (der Unterschied ist hier http://phainomena.de/2008/0… nachzulesen – bin aber nicht der/ die VerfasserIn), sondern darüber hinaus ergeben sich Anknüpfungspunkte für Platons Methode des vielleicht als ewig andauernd konzipierten Dialogs.

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