Eine kleine Philosophie der Liebe

Das Gefühl der Liebe verändert den Menschen, doch vermag sie wirklich ihn zu bessern?
Im platonischen Dialog Symposion tritt der Grieche Phaidros auf und bekennt, dass die Liebe der Beweggrund für tugendhafte Handlungen ist. Die Liebe lässt den Menschen über sich hinauswachsen, vor dem Angesicht der/des Geliebten wird man sich stets um Mut und Tapferkeit bemühen, statt von Scham gezeichnet sich der Feigheit anheim zu geben. Damit jedoch nicht genug, die Liebe erst ist es, die es vermag Menschen füreinander sterben zu lassen und es so ermöglicht, dem anderen das größtmögliche selbstlose Geschenk zu erbringen.
Doch wie selbstlos ist die Liebe? Viele hundert Jahre später schreibt Friedrich Nietzsche, dass Liebe und Habsucht erschreckend gleich sind. Statt der Tugend, steht hier die Gier nach Eigentum: „Der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, er will eine ebenso unbedingte Macht über Ihre Seele wie ihren Leib, er will alleine geliebt sein und als das Höchste und Begehrenswerteste in der anderen Seele wohnen und herrschen.“
Wer könnte leugnen, dass er, von Liebe beseelt, keineswegs bereit ist die geliebte Person mit jemand anderem zu teilen? Und ist es nicht dies, was Nietzsche anprangert? Stimmt man ihm zumindest ein wenig zu, so folgt daraus, dass vermeintlich tugendhafte Taten aus eben jener Habsucht entspringen – und wie tugendhaft und gut vermag eine Handlung noch zu sein, wenn ihre Motivation der niedere Trieb der Habsucht ist?

Platon. Symposion. 178a-180b
Nietzsche, Friedrich. Die fröhliche Wissenschaft. §14

Über Robert Musils Möglichkeitssinn

Nur eine Frage, so schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, lohne das Denken wirklich: jene nach dem rechten Leben.

Nun ist unsere Gesellschaft nicht arm an Vorstellungen, wie dieses rechte Leben auszusehen habe. Unserer Gesellschaftsordnung liegt die Freiheit als zentraler Wert zugrunde und so ist sie ganz im Gegenteil sogar die vielleicht reichste an angebotenen Lebenskonzepten. Pluralisierung der Lebensstile nennt dies die Soziologie.
Mit ihrer Vielseitigkeit, die von eher Konservativen als unheilvolles Chaos beargwöhnt werden mag, verliert die Gesellschaft jedoch keineswegs an Ordnungsmacht, sie spezifiziert sie lediglich für ihre Subsysteme, Klassen, Schichte, Wertcluster – wie immer man sie auch bezeichnet.

Die Vorstellung einer Gesellschaft mit einem einheitlichen Ordnungsprinzip, den christlichen Glaubensgrundsätzen etwa, ist der Auffassung eines sozialen Gefüges gewichen, das vielfältig differenziert ist. So viele Antworten es auf die Frage nach dem rechten Leben in unserer Gesellschaft gibt, die zwar nicht alle, aber zumindest eine Vielzahl von Lebenskonzepte zulässt, so wenig gibt es folglich eine Antwort. Es kann sie ohne streitbare Voraussetzungen nicht geben – und nicht nur Musil bleibt sie uns daher schuldig.
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Gibt es eine umfassende Interpretation?

Jede Interpretation verfügt über einen Blickstand, eine Blickhabe und eine Blickbahn.

Der Blickstand wird vom Interpreten eingenommen und ist abhängig von seiner Lebenssituation, seine Lebenssituation orientiert sich wiederum am Zeitgeist seiner Zeit, der sozialen Verfasstheit der Gesellschaft etc.
Die Blickhabe bezeichnet nichts anderes, als die thematische Vorbestimmung der Auslegung durch den Interpreten. Betrachtet er z.B. den Text als eine ethische Schrift, ein politisches Manifest oder eine anthropologische Untersuchung?
Die Blickbahn ist abhänig von der Frage der Interpretation, also das, was der Interpret im speziellen offenlegen will.

Stimmt man den obigen Punkten zu, wird es niemals einen gänzlich ausgeforschten Text geben, da sich endlose Kombinationsmöglichkeiten von individuellen Blickständen, Blickhaben und Blickbahnen ergeben – allein schon aus dem profanen Grund, dass sich der Blickstand stets mit der Zeit verändern wird. Keine Interpretation sollte folglich einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da sie selbst immer speziell ist und befangen durch ihren Blickstand, ihre Blickhabe und ihre Blickbahn.
Wie wäre es auch sonst zu erklären, dass wir stets neue wissenschaftliche und erhellende Arbeiten über zweitausend Jahre alte Texte vorfinden, wobei die Texte schon seit hunderten von Jahren erforscht werden?
Es bleibt die Frage, ob wir den Text jemals annähernd unter dem Blickstand, der Blickhabe und der Blickbahn des Autors sehen können, oder ob dies für uns immer ein Geheimnis bleiben wird.

nach Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Hrsg. von Günther Neumann. Frankfurt am Main: Reclam Verlag. (2002): S. 5-6

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hrsg. von: Wilhelm Weischedel. 5. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1998). (=Werke, Bd. 6)