Rituale

In seinem Roman Rituale schildert Cees Nooteboom die Welt und Sichtweise von Inni Wintrop. Dieser Mann treibt nach einem glücklosen Selbstmordversuch mit einer distanzierten Neugier durch das Amsterdam der sechziger und siebziger Jahre und beobachtet die Rituale der Menschen.
Zuletzt langt er bei der Überzeugung an, „[d]as Universum [käme] recht gut ohne die Welt aus“(1), die Welt ohne Menschen wohl eher besser als schlechter, und die Menschheit problemlos ohne ihn selbst. Vor dem Hintergrund dieser Einstellung zur Welt empfindet er eine Art von Freude am offensichtlichen Niedergang um ihn herum, am politischen, ökonomischen und ökologischen Kollaps; er sieht die Welt in Flammen stehen und erfreut sich an der Schönheit des Funkenfluges in der Nacht kosmischer Bedeutungslosigkeit.
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Um es gleich vorwegzuschicken, die Überschrift ist ein Epigramm aus der Feder Erich Kästners mit dem Titel Moral. (1) Die Aussage lässt aufhorchen und wenngleich eine Unzahl an Einwänden gegen die Aussparung des Denkens in seinem Epigramm möglich sind, so bleibt doch der Kern seiner Aussage davon unberührt.
Wohl so ziemlich jeder wird einräumen, dass ihm arme und hilfsbedürftige Menschen in nahen und fernen Ländern Leid tuen, dass er wünschen würde, die Welt wäre ein besserer Ort, als sie ist. Es lohnt sich, die Frage danach zu stellen, wie aufrichtig derartige Äußerungen sind.
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Eine Rebellion gegen die Vernunft?

In seiner Erzählung „The Imp of the Perverse“ (etwa: Der Kobold des Abnormen) schildert Edgar Allan Poe einen Impuls, eine Neigung, das Falsche zu tun, weil es das Falsche ist. Dieser Drang, den Poe the perverse nennt, entbehrt nicht nur jeder sinnhaften Grundlage, er ist allen Selbsterhaltungstrieben und den Wunsch nach Glück und Wohlergehen diametral entgegengesetzt.
Poe nennt einige Beispiele, um das Auftreten dieses Impulses, etwa den unwiderstehlichen Drang eines Redners, seine Zuhörer durch sein Ausschweifen wissentlich zu langweilen oder eine dringende Aufgabe aufzuschieben, einen wichtigen Termin verstreichen zu lassen – und fasst es zusammen in dem unwiderstehlichen Wunsch, sich in einen Abgrund zu stürzen, an dessen Rand man steht.

Den meisten wird dieses Verhalten mehr oder minder vertraut vorkommen, aber wie erklärt man ein Phänomen, das keinerlei Sinn aufweist, das jeder Vernunft entbehrt und sich nicht als Aufbegehren gegen eine äußere Moral begreifen lässt, sondern sich direkt gegen den eigenen Selbsterhaltungstrieb richtet?
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Der Selbstmord bei Aristoteles

Aristoteles sieht den Selbstmord durch das Gesetz der Polis (dt. Stadtstaat) verboten. Tatsächlich gab es zu der Zeit Aristoteles kein Gesetz, dass den Selbstmord unter Strafe stellte, jedoch leitet er das Verbot daraus ab, dass das, was die Gesetze nicht gebieten, automatisch verboten ist.
Aristoteles sieht jedoch, trotz des impliziten gesetzlichen Verbots des Selbstmordes, die konkurrierenden Interessen zwischen dem Selbstmörder und der Polis. Ein Selbstmörder, so Aristoteles, tut sich kein Unrecht an, denn er lässt sich den Selbstmord freiwillig angedeihen. Niemand würde sich jedoch freiwillig selbst ein Unrecht antun. Der Selbstmörder handelt also aus seiner eigenen Perspektive mit Recht, da der Selbstmord in seinem eigenen Interesse liegt. Aus der Perspektive der Polis, die unter anderem an ihrem Fortbestand interessiert ist, muss der Selbstmord als Unrecht erscheinen, da er den Interessen der Polis hinderlich ist. Aristoteles nennt auch die Strafe für den Selbstmord: Ehrverlust. (1)
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„Was nicht gar! Wie die Menschen uns Götter nun wieder verklagen!
Wir seien Spender des Unheils, sagen sie, wo sie doch selber Leiden
empfangen durch eigene Torheit und mehr als vom Schicksal!“

Homer: Odyssee. Übers. v. Anton Weiher. 11. Auflage. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2000. (= Sammlung Tusculum): I 32-34