Vergesst die Wurzeln nicht!

In mannigfaltigen Zusammenhängen wird oft vom sogenannten christlichen Abendland gesprochen, wenn auf die Kultur und die Tradition dieser Region der Welt referiert wird. Eine derartige Referenz schneidet allerdings die Antike mit all‘ ihren Denkern, Erkenntnissen und Arbeiten, die der Bildung des christlichen Abendlandes vorausgingen, vollkommen ab.
Nicht zuletzt die Epoche der Antike hat vieles geleistet, was heute nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Die Referenz auf die Antike ist schlicht verschwunden und die Dinge erscheinen als eine alltägliche Selbstverständlichkeit. So bemerkte Martin Heidegger in seiner Vorlesung über den platonischen Dialog Sophistes, dass wir diese Vergangenheit sind, und das nicht nur insofern, als dass man die griechische Tradition pflegt, indem man sich den alten und großen Problemen der Philosophie hingibt, sondern besonders dadurch, dass unser Alltag mit allen diesen Dingen durchdrungen ist, auch wenn wir diese oftmals nicht mehr wahrnehmen. (1)
Womöglich liegt der Grund dafür, dass auf dunkelraum.de oftmals Themen aus der Philosophie der Antike aufgegriffen werden, auch gerade darin, ein Bewusstsein dafür zu wecken, welcher Reichtum dort zu finden ist, womöglich auch aus dem Grund, dass ein philosophisches Problem wohl niemals wirklich verstanden wird, wenn man nicht seine Wurzeln kennt, aber auch, um vor aller Überheblichkeit zu warnen, die wohl jeder Epoche der Menschheit inne ist, nämlich sich selbst auf sämtlichen Gebieten für die aufgeklärteste und fortschrittlichste zu halten.

Wir können aus der Philosophie der Antike vieles lernen.

(1) Heidegger, Martin: Platon: Sophistes. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1992. (= Gesamtausgabe, II. Abteilung. Vorlesungen 1919-1944, Bd. 19). S. 10

Ist die Philosophie des Mittelalters Philosophie?

Die Frage, inwiefern man im Rückblick in das Mittelalter, die Schriften, die seinerzeit als Philosophie bezeichnet wurden, auch heute als Philosophie anerkennen kann, ist alles andere als trivial.
Die Philosophie des Mittelalters mit ihren Vertretern wie Justin, Clemens von Alexandrien, Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin und vielen anderen ist maßgeblich am christlichen Glauben orientiert und unterscheidet sich damit fundamental sowohl von der Philosophie der Antike, wie auch von der späteren Philosophie der Moderne. Denn in diesen Strömungen wurde und wird Erkenntnis nicht durch Glauben, sondern, vereinfacht gesprochen, durch strenge Analyse, errungen. Natürlich wäre es verkürzt zu sagen, die Philosophen des Mittelalters hätten sich nicht auch den philosophischen Arbeitsmethoden der Antike bedient, aber über allem schwebte die Kraft des Glaubens und die Macht Gottes.
Würden heute entsprechende Schriften verfasst werden, würde man sie wohl eher dem Bereich der Theologie zurechnen als der Philosophie (1), da sie dem modernen Anspruch an eine philosophische Schrift zu großen Teilen oft nicht gerecht werden. Jedoch haben jene Philosophen ihre Schriften nicht in der heutigen Zeit verfasst, sondern im Mittelalter und Heinzmann bemerkt, dass man nicht den Fehler machen sollte, mit einem heutigen Philosophieverständnis über jene Zeit zu urteilen, sondern für ein Urteil das damalige Philosophieverständnis heranziehen sollte. Hinzu arbeitet er die Errungenschaften christlicher Philosophie des Mittelalters heraus, wie beispielsweise die Individualisierung, und ihre Bedeutung für die Philosophie der Moderne, die in dieser Art niemals ohne die Philosophie des Mittelalters möglich gewesen wäre. (2)
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So vieles ist verloren!

Es ist alles andere als ein Geheimnis, dass es um die Überlieferungslage der Philosophie der Antike nicht zum Besten bestellt ist. Selten erfuhr ein Gesamtwerk, wie das des Platon, eine so intensive Pflege. Richten wir unseren Blick beispielsweise auf das Gesamtwerk des Aristoteles, so bietet sich ein erschreckendes Bild von großem Verlust. Während man durch den Umstand, dass in den heutigen Bücherregalen viele Werke des Aristoteles zu finden sind, geneigt sein kann anzunehmen, dass sein Gesamtwerk recht gut erhalten ist, so lehrt ein Blick in das aristotelische Werkregister von Diogenes Laertius (DL V 22-26), dass vom Schaffen des Aristoteles lediglich ein Viertel überdauert hat. Richten wir unser Augenmerk auf Epikur, ist das Bild noch verstörender, von seinem umfangreichen Werk sind heute lediglich noch drei Briefe neben vereinzelten Lehrsätzen und Fragmenten erhalten. Von den Vorsokratikern muss erst gar nicht gesprochen werden.
Diese Liste könnte mühelos weitergeführt werden, aber die obigen Philosophen sind Paradigma für den großen Verlust genug. Ob man hoffen darf, dass einzelne Schriften wieder auftauchen, wie eine Zitatsammlung (Gnomologium Vaticanum Epicureum) von Epikur und seinen Schülern, die überraschend 1888 in einem vatikanischen Kodex gefunden wurde, ist fraglich.

Der Verlust der Bibliothek von Alexandria mit allen ihren Schätzen ist doch nur einer von vielen, wenngleich es sich hierbei um einen besonders großen handelt. Es ist nicht auszudenken, an welchem Punkt wir uns heute ideengeschichtlich befinden würden, wäre mehr erhalten geblieben, und welcher Wissensschatz uns durch einzelne Schriften zuteil geworden wäre. Und so bleibt nur zu hoffen, dass viele der Dinge, die auf ewig verloren und vergessen sind, heute von anderen neu gedacht werden, auch wenn es sich dabei dann nicht mehr um einen originären Aristoteles oder Epikur handelt.

Wir suchen überall das Unbedingte,
und finden immer nur Dinge.

Novalis: Blüthenstaub. In: Novalis. Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999. S. 227 (= Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2).