Die Frage, inwiefern man im Rückblick in das Mittelalter, die Schriften, die seinerzeit als Philosophie bezeichnet wurden, auch heute als Philosophie anerkennen kann, ist alles andere als trivial.
Die Philosophie des Mittelalters mit ihren Vertretern wie Justin, Clemens von Alexandrien, Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin und vielen anderen ist maßgeblich am christlichen Glauben orientiert und unterscheidet sich damit fundamental sowohl von der Philosophie der Antike, wie auch von der späteren Philosophie der Moderne. Denn in diesen Strömungen wurde und wird Erkenntnis nicht durch Glauben, sondern, vereinfacht gesprochen, durch strenge Analyse, errungen. Natürlich wäre es verkürzt zu sagen, die Philosophen des Mittelalters hätten sich nicht auch den philosophischen Arbeitsmethoden der Antike bedient, aber über allem schwebte die Kraft des Glaubens und die Macht Gottes.
Würden heute entsprechende Schriften verfasst werden, würde man sie wohl eher dem Bereich der Theologie zurechnen als der Philosophie (1), da sie dem modernen Anspruch an eine philosophische Schrift zu großen Teilen oft nicht gerecht werden. Jedoch haben jene Philosophen ihre Schriften nicht in der heutigen Zeit verfasst, sondern im Mittelalter und Heinzmann bemerkt, dass man nicht den Fehler machen sollte, mit einem heutigen Philosophieverständnis über jene Zeit zu urteilen, sondern für ein Urteil das damalige Philosophieverständnis heranziehen sollte. Hinzu arbeitet er die Errungenschaften christlicher Philosophie des Mittelalters heraus, wie beispielsweise die Individualisierung, und ihre Bedeutung für die Philosophie der Moderne, die in dieser Art niemals ohne die Philosophie des Mittelalters möglich gewesen wäre. (2)
So kann man nicht umhin, nicht nur wegen der historischen Entwicklung der Philosophie, sondern ebenfalls wegen des damaligen Verständnisses von Philosophie, ihrer mannigfaltigen Eigenleistungen und entscheidenden Bedeutung für die Philosophie der Moderne, der Philosophie des Mittelalters auch heute den Status von Philosophie zuzusprechen.
(1) Über die Unschärfe des Philosophiebegriffes muss nicht gesondert gesprochen werden, denn das es durchaus möglich ist, auch heute entsprechende Schriften unter dem Oberbegriff der Philosophie zu fassen, allein schon aus dem Grund, weil keine allgemeingültige Definition der Philosophie existiert, wird nicht widersprochen. Jedoch würde es wohl der allgemeinen akademischen Auffassung von den Anforderungen an moderne Philosophie in wichtigen Teilen zuwiderlaufen und aus diesem Grund von vielen wohl mehr der Theologie zugehörig betrachtet werden.
(2) vgl. Heinzmann, Richard: Philosophie des Mittelalters. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1998. S. 15-27
siehe hierzu auch: Philosophie und Glaube