Der Glaube an die Wissenschaft

In unserem säkularisierten Staat, in der die christlichen Kirchen immens an Boden verloren hat, scheint es so, als habe sich der Glaube, der einst das Fundament der Gesellschaftsordnung in ganz Europa war, verflüchtigt.
An seine Stelle trat mehr und mehr die Wissenschaft, die ihre unersättlichen Arme nach allem ausstreckte, was zuvor als heilig und unantastbar galt:
Das menschliche Genom ist entschlüsselt (wenn wir auch bislang nur einen Bruchteil davon in seiner Funktion begreifen können), die Psychoanalyse erhellt das tiefe Dunkel unseres Unbewussten und die Neurologen machen herrlich bunte Bilder von unseren Gehirnen bei der Arbeit.
All dies dient dem Erkenntnisgewinn, der jedoch lange schon kein Selbstzweck mehr ist:

All diese Informationen und Verfahren sind wertvoll und gewinnbringend, denn wer kann sich ihrer Wirkung noch entziehen? Wer ihre unglaublichen Verdienste leugnen?
Es ist nur konsequent, wenn ihre Erkenntnisse unser tägliches Leben beeinflussen: strafmildernde Umstände etwa, wie sie die Psychologie in der verpfuschten Kindheit eines Angeklagten findet, sind kaum auszuräumen: Jeder weiß um die entscheidende Bedeutung der kindlichen Entwicklung für das weitere Leben.
Auch wird heute kaum ein psychisch Kranker mehr als schlichtweg hysterisch von seinem Hausarzt mit langen Spaziergängen behandelt. Es gibt unzählige Therapieformen, die stets weiterentwickelt werden. In Fällen, in welchen solche Maßnahmen nicht mehr greifen, bietet die Pharmaindustrie den Betroffenen Möglichkeiten, ein würdiges Leben zu führen, denn unserer besseres Verständnis der fragilen und komplexen Hirnchemie erlaubt ein gezieltes Eingreifen, wenn krankheitsbedingt ein Ungleichgewicht besteht.
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Einsamkeit – II – Das Ich

Wir sprachen bereits letzte Woche über die Einsamkeit, in welche wir in Bezug auf unser Gegenüber geworfen sind.
Vielleicht ist sich nun der Frage zu stellen, ob wir zumindest bei uns selbst sein können. Ein wenig scheint es, als könnten wir uns besser ausforschen, als unseren Freund und doch, dringen wir zu unserem Kern vor?
Der erste Einwand ist sicherlich, dass es einen solchen Kern kaum gäbe, in diesem Fall wäre unsere Erörterung auch bereits an ihrem Ende angekommen. Ohne das Konstante in uns, den Kern, können wir uns nicht in der geforderten Art und Weise erkennen, sondern immer nur Momentaufnahmen von uns registrieren, wir wären beständig im Fluss, ohne einzige Konstante im reissenden Strom der Veränderung.
Gestehen wir uns aber zu, dass es einen Kern in allen Veränderungen gäben könne, so stellt sich unwillkürlich die Frage, wie wir ihn mit Sicherheit ausmachen können und uns vergewissern, dass wir uns nicht nur eine Wunschvorstellung von uns bilden. Anscheinend können wir uns niemals sicher sein, ob es sich bei diesem Etwas um unseren Kern, oder lediglich eine Vorstellung von uns über uns handelt.

Letzte Woche sahen wir, dass wir einsam sind, weil wir unseren Freund nicht erkennen können, diese Woche müssen wir sehen, dass wir nicht einmal uns mit Sicherheit erkennen können und so auch gegenüber uns selbst einsam sind. Wir vermögen es ebensowenig bei anderen zu sein, wie wir es nicht vermögen bei uns selbst zu sein.

Einsamkeit – I – Der Andere

Vielleicht haben wir über unsere Freunde nur eine reflektierte Vorstellung, welche keinerlei Anspruch auf Kohärenz mit der Wirklichkeit erheben darf. Das wahre Wesen des Freundes, so scheint es, ist unserem Zugang auf ewig verschlossen, liegt doch genau in der Unfähigkeit einen Einblick in den Geist des Gegenübers zu gewinnen die Grenze unserer Möglichkeiten und alles was uns bleibt ist Spekulation über das, was unablässig hinter seiner Stirn geschieht.
In Anbetracht des Unvermögens in das Seelenleben des Anderen einzutauchen, bleibt ein jeder Mensch auf ewig allein und Gefangener einer Einsamkeit, aus welcher keine Möglichkeit zur Flucht führen mag. Sicherlich ist die hier erwähnte Einsamkeit eine gänzlich andere als die herkömmliche, viele mögen sie nicht bemerken und selbst wenn ihr Augenmerk auf sie fallen sollte, so bedeutet dies noch nicht, dass hieraus ein Leidensdruck resultiert. Dennoch, alles was uns vom Freunde bleibt, sind die Vorstellungen, welche wir von ihm entwickeln und soviel Mühe wir uns auch geben werden, niemals werden sie ihm gänzlich entsprechen, wir können nicht einmal wissen wie nah oder fern von seinem Wesen sich unsere Vorstellungen befinden. Wir können nicht bei ihm sein, sondern nur bei unseren Vorstellungen von ihm.

So sitzen wir mit ihm am Tisch, einsam wie er und hoffen zumindest ein wenig seines Wesen in unseren Vorstellungen erfasst zu haben.

Und dennoch, hin und wieder wirkt es, als ob wir Momente erfahren, in denen wir in der Seele eines Menschen lesen können, blindlings in sein Wesen eintauchen und uns im Meer seines Geistes bewegen, als sei uns ein jeder Winkel bekannt. Das über einem Gespräch entstehende Gefühl von zwei zu einer untrennbaren Einheit verschmolzenen Seelen bleibt uns noch erhalten, während dieser flüchtige Augenblick längst erloschen ist.
Täuschung? Selbstbetrug? Man mag skeptisch bleiben und hoffen.

Die Poesie der Philosophie

Wenn Philosophie der liebevolle Umgang mit der Wahrheit ist, wie Dante Alighieri schrieb, dann ist Poesie vielleicht der liebevolle Umgang mit dem Alltäglichen.

Der poetische und in gewisser Weise magische Vorgang, verwandelt ein Objekt oder einen Moment in etwas, das ungleich mehr ist. Es verschmilzt mit dem, was dahinter liegt.
Es liegt etwas metaphysisches darin und nicht zuletzt daher kommt es wohl, dass der Begriff der Epiphanie, der ursprünglich die Offenbarung Gottes bezeichnete, an dieser Stelle in die Sphäre des Profanen und Selbstverständlichen herabgesunken ist.

Der poetische Moment zeigt das Gewebe der Welt als fadenscheinig und abgewetzt, wo es am selbstverständlichsten ist und hindurch schimmert eine Tiefe und Bedeutung, die man nie beobachtet hat. Das Poetische, schreibt Genazino, ist der Gewinn einer Anschauung von etwas, was gleichzeitig als wertlos hätte übersehen werden können.
Oft ist es gerade die Tatsache, dass etwas banal und nur allzu vergänglich ist, die den Betrachter gewissermaßen mit sich hinabzieht und ermöglicht, dass man die Welt von unten, aus der Perspektive eines Objektes sieht, das schutzlos und winzig auf dem Boden der viel wichtigeren Realität liegt, als hätte es jemand dort verloren.
Der Mensch, der einen solchen poetischen Augenblick erlebt, stellt sich plötzlich eine Frage, deren Antwort zu trivial wäre, um sie zu formulieren. Er stellt sie dennoch – und wundert sich.
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Nicht viele Tage sind uns beschieden, das Leben kommt und verlischt in einem einzigen Lidzucken, viel zu wenig, viel zu kurz erscheint uns die Zeitspanne, die uns auf des Erden Antlitz gegeben ist.
So oder ähnlich argumentieren viele. Andere bedauern die Länge des Lebens, es erscheint ihnen zuviele Tage zu beinhalten, als das ein Mensch vermögen könnte sie mit Sinnhaftem anzufüllen. Im trügerischen Überfluss an Lebenslänge vertrödeln wir Unmengen an Zeit und verschenken Jahre durch nutzlosen Zeitvertreib, erst zu spät erkennend, wie wertvoll die Zeit eigentlich war.

Möglich, dass letztere recht mit ihrer Behauptung haben, dass wir zuviel Zeit verschwenden, während uns das Leben fast ewig erscheint. Aber was ist schon eine sinnvolle Handlung? Aufoktroyierte Vorstellung von materieller Produktivität oder die Förderung der Progression der eigenen Person? Die Differenzierung von sinnhaften und sinnlosen Handlungen erscheint willkürlich. Für die einen besteht jener Sinn wohl nur durch den Menschen hindurch und aus ihm heraus und steht keineswegs durch einen Gott zwischen die Sterne des Himmelszeltes geschrieben. Andere wiederum setzen ihren Glauben in einen Gott, andere in die Wiedergeburt und hätten sicherlich gerne noch ein paar Jahre um ihrem verschlissenem Karma diverse Verbände anzulegen…

…aber alle drehen sich im Kreise, alle Diskussion ist unentscheidbar und jedwede Klage umsonst.

Das Leben besteht aus Lebensvollzug, nicht in geplanten Handlungen, nicht in der Zukunft, sondern nur hier und jetzt, heute, zu dieser Stunde, zu dieser Minute, in dieser Sekunde, in diesem Augenblick des Lidzuckens.

Es ist und bleibt lebenslang.

Wie viel Toleranz ist eigentlich gesund?

Einer der spannendsten Bereiche der Soziologie ist die Soziologie des abweichenden Verhaltens oder auch der Devianz. Deviant verhält sich, wer Normen und Regeln nicht befolgt, die von einer Mehrheit der Gesellschaft anerkannt, eingehalten und durchgesetzt werden. Solches Verhalten wird sanktioniert, denn keine Gruppe kommt gänzlich ohne Regeln aus, auch kein Syndikat und keine Motorradgang. Im Fall von Gesetzen tut dies eine eigens dazu geschaffene Behörde: die Polizei; in weniger institutionalisierten Gruppen geschieht es normalerweise informell, also durch eine Rüge, ein Auslachen, ein Kopfschütteln.

Man könnte nun denken, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft aus Konformisten besteht, die sich an die Spielregeln halten und denen eine Minderheit von Freibeutern und Verbrechern entgegensteht, doch so einfach ist es nicht: Niemand befolgt alle Normen und niemand bricht sie alle.
Man denke nur an den Straßenverkehr: Wer fährt schon immer völlig StVO-konform? Fast jeder fährt oft und gern ein wenig schneller als erlaubt, trotzdem fliegt kaum jemand mit hundert durch eine geschlossene Ortschaft. Selbst, wenn eine Regel gebrochen ist, ist man nicht frei davon; man zieht im Zweifelsfall eine neue Grenze, fährt 120 statt 100 und bremst brav beim Ortseingang.
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Kaum jemand wird die Auffassung vertreten, dass die Welt gut sei, so wie sie ist. Wer könnte es in Anbracht des vielen Leides? Menschen, die dieses Leid nicht mehr schweigend ertragen wollen, machen sich daran die Welt zu verändern. Viele von ihnen nehmen übermenschliche Anstrengungen auf sich, um irgendwann festzustellen, dass sich trotz aller Mühsal und sozialem Engagement die Welt sich nicht verändert hat; aber hat sie das wirklich nicht?

Wir sehen nur die unmittelbaren Auswirkungen unserer Taten, aber kaum welche wunderschönen Blüten sie später treiben, in der nächsten Stunde, am nächsten Tag oder im kommenden Jahr. Eine erwiesene gute Tat wirkt fort und über die Tat hinaus, vielleicht wird sich jener Mensch, dem sie erwiesen wurde, eines Tages daran erinnern und selbst uneigennützig anderen Menschen helfen. Vielleicht werden einige von jenen, welchen er half, sich wiederum an die Tat entsinnen, welche ihnen erwiesen wurde, und ihrerseits beginnen anderen Menschen zu helfen, wenn sich ihnen die passende Gelgenheit bietet.

Unsere Tat ist gleichzeitg ein Samen, welchen wir in die Menschen säen und selbst wenn unsere Samen kaum auf fruchtbaren Boden fallen sollten, hin und wieder werden sie es, und so auch lange nach unserer Tat die Welt verändern, ohne dass wir wissen, dass wir es waren, die diesen Stein ins Rollen brachten.

Es sind die Samen, die wir säen, die diese Welt verändern.

Wozu Kunst?

Die Frage, wozu Kunst denn nun eigentlich gut sei, klingt vielleicht zunächst absurd, doch kommt man nicht daran vorbei, wenn plötzlich vom Ende der Kunst die Rede ist.
Was geht da zu Ende und warum?
Was hat es vorher gemacht und wer hat es sich ausgedacht?
Viele Philosophen haben sich diese Frage gestellt und versucht eine Antwort darauf zu finden, was Kunst ausmacht und was ihr Zweck sei.

Kant oder Schiller etwa haben versucht zu beweisen, dass die Kunst, ähnlich wie die Natur, uns vor Augen führt, dass wir einerseits vergänglich sind, andererseits aber auch an Erkenntnis und Vernunft teilhaben. Dies, so ihre Auffassung, befördert die Selbsterkenntnis und führt letztlich dazu, dass wir besser verstehen, was wir sind.
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Was ist hier zu sagen, was nicht schon tausend Male gesprochen wurde, aus allen Winkeln der Erde als Gedanke aufstieg und sich bei allen Beerdigungen den Gehirnen der Gäste bemächtigte?
Nicht viel, so schätze ich, darum will ich nicht damit langweilen auszuführen, dass der Tod Nahestehender auf unsere eigene Sterblichkeit verweist; ebensowenig ist es mir ein Bedürfnis an dieser Stelle über das, was nach dem Tode kommen mag, zu debattieren. Hier soll nur die Trauer der noch Lebenden eine Rolle spielen. Tiefe Trauer, wie sie Eltern beim Verlust eines Kindes oder Kinder beim Verlust der Eltern empfinden. Starke Trauer wie wir sie empfinden, nachdem ein Mensch verstorben ist, dem wir uns zu Lebzeiten tief verbunden fühlten und noch nach seinem Tode fühlen. Eben jene Trauer, die nicht bereits eine Stunde nachdem der Leichnam unter die Erde geschafft worden ist, vom Leben hinfortgetragen wird.
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Wir alle haben Albträume, die einen selten, die anderen öfter. Ein junger Mann hatte allerdings einen besonderen.
Nach diesem Alptraum verhielt er sich apathisch gegenüber seinen Eltern, lag zusammengekrümmt auf dem Bett und schrie nur das er Angst vor den offenen Fenstern hätte und friere. Die Fenster wurden geschlossen, die Heizung aufgedreht bis eine unerträgliche Hitze in der Wohnung herrschte. Im Verlauf des Tages stellte sich jedoch nicht die geringste Besserung seines Zustandes ein und die Eltern entschieden sich einen Arzt hinzuzuziehen.
Der Arzt glaubte den Berichten der Eltern nicht, weder, dass der Sohn zuvor ein ganz normalerer Junge ohne Verhaltensauffälligkeiten war, noch glaubte er, dass ein Albtraum derartiges auslösen könne. Da sich der Junge jedoch offensichtlich in einem bedrohlichen psychopathologischen Zustand befand wies der Arzt ihn in eine psychiatrische Klinik ein.
Hier verliert sich die Spur des Jungen und ich weiß bis heute nicht was aus ihm geworden ist. Jedoch war ich mir nie so sicher wie der Arzt, dass ein Albtraum derartiges nicht auslösen kann. Ist es möglich derartiges zu einhundert Prozent wirklich auszuschließen, nur weil derartige Fälle äußerst selten auftreten und dann anderen Ursprüngen zugeschrieben werden? Wer weiß schon, was in uns schlummert und wer weiß schon, was für Schreckliches uns heute Nacht in unseren Träumen widerfahren könnte.