Der Glaube an die Wissenschaft

In unserem säkularisierten Staat, in der die christlichen Kirchen immens an Boden verloren hat, scheint es so, als habe sich der Glaube, der einst das Fundament der Gesellschaftsordnung in ganz Europa war, verflüchtigt.
An seine Stelle trat mehr und mehr die Wissenschaft, die ihre unersättlichen Arme nach allem ausstreckte, was zuvor als heilig und unantastbar galt:
Das menschliche Genom ist entschlüsselt (wenn wir auch bislang nur einen Bruchteil davon in seiner Funktion begreifen können), die Psychoanalyse erhellt das tiefe Dunkel unseres Unbewussten und die Neurologen machen herrlich bunte Bilder von unseren Gehirnen bei der Arbeit.
All dies dient dem Erkenntnisgewinn, der jedoch lange schon kein Selbstzweck mehr ist:

All diese Informationen und Verfahren sind wertvoll und gewinnbringend, denn wer kann sich ihrer Wirkung noch entziehen? Wer ihre unglaublichen Verdienste leugnen?
Es ist nur konsequent, wenn ihre Erkenntnisse unser tägliches Leben beeinflussen: strafmildernde Umstände etwa, wie sie die Psychologie in der verpfuschten Kindheit eines Angeklagten findet, sind kaum auszuräumen: Jeder weiß um die entscheidende Bedeutung der kindlichen Entwicklung für das weitere Leben.
Auch wird heute kaum ein psychisch Kranker mehr als schlichtweg hysterisch von seinem Hausarzt mit langen Spaziergängen behandelt. Es gibt unzählige Therapieformen, die stets weiterentwickelt werden. In Fällen, in welchen solche Maßnahmen nicht mehr greifen, bietet die Pharmaindustrie den Betroffenen Möglichkeiten, ein würdiges Leben zu führen, denn unserer besseres Verständnis der fragilen und komplexen Hirnchemie erlaubt ein gezieltes Eingreifen, wenn krankheitsbedingt ein Ungleichgewicht besteht.

Ich glaube nicht, dass jemand diese Errungenschaften missen wollte, denn sie erleichtern vielen Menschen das Leben und retten derer auch eine beachtliche Anzahl.

Doch hier hört die Forschung nicht auf: Durch moderne neurologische Verfahren ist es möglich geworden zu ermitteln, welche Hirnareale für bestimmte Aufgaben genutzt werden, die Motorik hier, die Phantasie dort; wir kennen die Hormone, die etwa für Wut oder das Gefühl des Verliebtseins verantwortlich sind… zumindest vermitteln diesen Eindruck die Forscher, die stolz ihre Ergebnisse präsentieren.
Was haben sie da wirklich gefunden? Ursachen? Wirkungen? Korrelate?
Keiner dieser Wissenschaftler kann diese Frage beantworten – selbstverständlich auch ich nicht – und doch ist der Glaube an die Ursächlichkeit dieser Phänomene allgemein anerkannt.

Das Problem an diesem Glauben an die Wissenschaft ist nicht, dass die Menschen der Forschung und den Forschern vertrauen, sondern die Tatsache, dass sie sich dieses Glaubens nicht bewusst sind: Die Ergebnisse bleiben solange Mutmaßungen, bis beispielsweise erwiesen ist, dass das Gehirn nicht nur der Sitz, sondern die Ursache des Bewusstseins ist.
Neurologen verweisen auf die Zukunft, in der bessere Methoden zur Verfügung stehen werden. Eine These aber, die nicht falsifizierbar ist, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Man glaubt daran – oder nicht.

5 Antworten auf „Der Glaube an die Wissenschaft“

  1. Ein sehr guter Artikel, wirklich super geschrieben.
    Diese These hat Fromm, nicht Frisch:-) in seinem Haben oder Sein auch aufgestellt und sie leutet mir vollkommen ein. Das ein gewisser Glauben immer besteht, sei es ein religiöser, an die Issenschaft oder was auch immer. Jeder Atheist glaubt genausoviel oder wenig wie ein Christ, er glaubt eben nur an etwas anderes.
    Danke für den Text

  2. Es spricht mir aus der Seele, wenngleich man bemerken muss, dass der Glaube an die Wissenschaft vom religiösen Glauben graduell verschieden ist, so ist, auch für den kritischen Menschen, das Glaube im Bezug auf die Wissenschaft auf ein tragfähigeres Fundament durch die Historie der Wissenschaft gestellt, denn durch alle Irrtümer und Fehlgänge hindurch wurde Wissen, oder zumindest endoxa (begründete und intersubjektiv vermittelbare Meinung), produziert.
    Damit möchte ich nicht ausdrücken, dass der Glaube dadurch unproblematischer wäre, im Gegenteil, gerade dieser Effekt führt zur unkritischen Übernahme und blindem Glauben.

  3. Als mir dieses Problem letztes Jahr über den Weg lief (in From der Debatte um den freien Willen, den die Neurologie entdeckt haben wollte), entdeckte ich einen anregenden Artikel von Peter Bieri zu diesem Thema. Er verglich diese Neurologen mit Chemikern, die die Farbzusammensetzung der Mona Lisa analysiert haben und nun meinen, sie könnten uns das Geheimnis ihres Lächelns erklären. Meiner Meinung nach ein recht treffender Vergleich.

    Auch ich "glaube" an die moderne (Natur-)Wissenschaft, solange sie empirische Tatsachen und deren Zusammenhänge beschreibt und diese Phänomene auf gemeinsame Ursachen zurückzuführen versucht (immer unter dem Vorbehalt, dass sie sich irren können). Sobald sie aber versucht, gewisse Fragen zu erklären (insbesondere, die Existenz Gottes zu widerlegen oder eben das Hirn zur Ursache des Bewusstseins zu machen und nicht nur zu dessen Sitz – wobei auch das schon bezweifelbar wäre, angesichts der Berichte von Nahtoderfahrungen), schiesst sie meiner Meinung nach über ihr Ziel hinaus. Denn dann sind ihre Schlüsse nichts anderes als ihre grundlegenden Prämissen: Ein veritabler Zirkelschluss…

  4. Der Mona Lisa Vergleich ist in der Tat recht treffend –

    und mir ist klar, dass ich das Rad erfunden habe, sondern, dass einige schon eine ganze Weile daran drehen. Mir fehlt diese Stimme nur in dem, was man so liest.
    Niemand möchte, dass die Neurologen sich ihren Blumenbeeten widmen; sie sollen möglichst alle in Brot und Arbeit stehen und stets die neusten und besten Geräte zur Verfügnung haben, aber mir erscheint es angebracht, dass die Philosophen (deren Handwerkszeug, nebenbei bemerkt, ungleich günstiger ist, liebe Hochschulverwaltung) sie mal ein wenig auf den Boden zurückholen: Man frage einen Naturwissenschaftler mal, was dieses Bewusstsein überhaupt ist, nach dem sie da suchen und das erklären zu können sie den Anspruch haben – und schon gerät er ins Stottern.
    Sie leisten wertvolle Arbeit und sollten sich von den Befindlichkeiten Andersgläubiger nicht davon abhalten lassen, weiterzuforschen – wenn die Ärzte nicht irgendwann das Sakrileg begangen hätten, Leichen zu obduzieren, um mehr über den Körper herauszufinden, sähe es heute düster aus…

    Mich wundert nur, dass Singer und seine Spießgesellen scheinbar solche Zyniker und Nihilisten sind: Wenden sie das Menschenbild, das sie entwerfen, wenn sie so unbedacht das Wunder Mensch (und ich zumindest kann nicht aufhören mich über die Menschen und den Menschen zu wundern) auf ein paar Basenpaare reduzieren, auch auf sich selbst an?

  5. Richard Feynman meinte einmal, er könne den Geruch einer Rose intensiver geniessen, weil er wisse, was für physikalische Vorgänge ablaufen müssen, dass er die riechen kann – und das klingt für mich doch irgendwie plausibel. Ich kenne die Momente, in denen ich etwas gerade deshalb geniessen kann, weil ich weiss, wie es vermutlich funktioniert.

    Das Problem dabei ist das der Qualia: auch wenn die Rose Moleküle absondert, die in der Nase rezipiert werden, erklärt das noch lange nicht, wieso die Rose für mich ausgerechnet so riecht, wie sie riecht, und weshalb ich nicht einfach nur auf den Rosengeruch reagiere, sondern ihn bewusst wahrnehme, mag, geniesse. Die Ausschüttung von Hormonen in meinem Hirn und ein Stromschlag darin erklären noch nicht, wieso ich meine Freundin liebe, sondern ist nur ein Zeichen dafür – und so weiter.

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