Georg Simmel (*1858 Berlin, 1918 Straßburg) vertritt in seinem Aufsatz Der Konflikt der modernen Kultur die These, dass das geistige Leben aufgrund seines eigenen Wesens sich immer schon mit seinen eigenen Erzeugnissen im Widerspruch befindet.
Geistiges Leben als Lebensprozess, als unmittelbare, an sich formlose Energie, kann nur in Erscheinung treten, indem es sich in unterschiedlichen, wie Simmel es nennt, Formen ausdrückt. Diese Erzeugnisse haben jedoch die Eigenschaft, vom Zeitpunkt ihres Entstehens an eine gewisse Selbständigkeit von der seelischen Dynamik, die sie erschuf, zu besitzen.
Sie haben mit dem Prozesshaften und Ruhelosen des Lebens nichts mehr zu tun. Stattdessen zeichnen sie sich durch einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit aus. Während geistiges Leben immer in der Gegenwart strömt, hat Kultur als Gesamtheit der Ausdrucksformen eine Geschichte, deren Gegenstand der Wandel dieser Formen ist. Als tieferen Grund dafür, dass sich die Kulturformen wandeln, nimmt Simmel nun den oben angesprochen Widerspruch zwischen ihnen und dem Leben selbst an. Das Leben, das seinem Wesen nach unruhig ist, sich entwickeln und weiterströmen möchte, kämpft gegen seine Form gewordenen Ausdrücke an, die ihm als abgeschlossene nicht weiter folgen können und auf neue Ausdrucksformen der Zukunft einengend wirken. Das Leben sucht sich immer neue Formen und kämpft für sie und mit ihnen gegen die alten Formen an. Kultur wandelt sich.
Als ganz neues Phänomen seiner Epoche (im Übergang zum 20. Jahrhundert) beschreibt Simmel die Zuspitzung des alten, unlösbaren Konflikts bis zu dem Maße, dass das Leben versucht das Prinzip des nur mittelbaren Ausdrucks in einer Form überhaupt zu überkommen. Es kämpft gegen alte Kulturformen, ohne neue einsetzen zu wollen.
Dies kann zwar zu einer größeren Vielfalt und Freiheit der Formen führen, aber nie bis zur vollen Unmittelbarkeit gelingen. Das Leben bleibt letztlich an sein Wesen gebunden, das im Erscheinen in Formen liegt.
Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur in: Ralf Konersmann (Hrsg.): Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Leipzig 2001, S.95-114
Ist es richtig, wenn die Essenz der Simmelschen Diagnose damit beschrieben werden kann, dass in der modernen Kultur das Leben nach dem unmittelbaren Ausdruck seiner selbst sucht? Es durcheilt alle Formen, reißt sie nieder, erstellt neue, ephemere Formen, die schon den Keim des Untergangs in sich tragen.
Diese Zuspitzung scheint mir noch stärker auch in unserer Zeit spürbar zu sein. Um eine andere Entgegensetzung anzubringen: Die Menschen suchen den Augenblick zu genießen anstatt ihr Leben als Idee zu verstehen.