Mythos der Philosophie: Eros

Aus heutigen Sicht erschließt sich der Zusammenhang zwischen der Philosophie und Eros, dem griechischen Gott der Liebe, nicht ohne Weiteres: Eros, von den Römern Amor oder Cupido genannt, lässt vielleicht an barocke Bilder von speckigen Engelchen mit Pfeil und Bogen denken. Auch sein Zuständigkeitsbereich wird wohl eher zwischen Liebe und Liebelei, in jedem Fall im Erotischen verortet – und nicht in der Philosophie.


Letzteres gilt nicht allein für unser heutiges Verständnis. Im Symposion lässt Platon bekannte und berühmte Zeitgenossen auftreten und ihre Lobreden auf Eros halten. Sie sind Stellvertreter für gängige Auffassungen über Eros und widersprechen einander gründlich: Mal ist Eros der älteste und mächtigste unter den Göttern, mal ist er der Jüngste, Zarteste, bei anderen gibt es ihn doppelt. Im zweiten Teil des ohnehin untypischen Textes stellt Sokrates die Vorstellungen seine Vorredner nicht nur in Frage, sondern setzt ihnen auch auseinander, wer und was Eros tatsächlich sei. Dabei beruft er sich auf Diotima, eine weise Frau, die ihm das Wesen des Eros offenbart hat (auch Sokrates in der Rolle des Schülers, zumal einer Frau, ist denkbar ungewöhnlich für Platon).

Eros, so Sokrates, sei zunächst gar kein Gott. Lieben heißt begehren und man begehrt, was man nicht hat oder nicht verlieren möchte. Es entsteht also aus einem Mangel, einem Nicht-Haben. Die Götter aber haben das Gute und das Schöne bereits, also das, worauf sich das Lieben stets richtet. Vielmehr sei Eros ein Daimon, ein Zwischenwesen, ein Mittler und Bote zwischen Göttern und Menschen. In diesem Dazwischen-Sein gleicht er dem Philosophen, der sich ebenfalls in einer Mittel-Position befindet: Die Wahrheit besitzt der Philosoph nicht, aber er strebt nach ihr. Die Unwissenden dagegen glauben, die Wahrheit bereits zu kennen und suchen daher nicht weiter nach ihr. Zwischen den Weisen und den Unwissenden steht der Philosoph, der ewig Strebende.

Im Symposion versteht Sokrates Eros also, anders als seine Vorredner und die Zeitgenossen Platons, nicht als einen Gott, der dem Geliebten gleicht, sondern als das Lieben selbst, das Sehnen und Streben, das Gefühl, ohne das Geliebte nicht vollständig zu sein. Dieses Lieben und Streben muss dabei eben nicht mit der Liebe zu einem bestimmten Menschen identisch sein – ebenso sieht Sokrates Eros am Werk, wenn man nach anderen Dingen strebt, nach Geld etwa, nach Macht oder nach Weisheit.

Die Philosophie, als Liebe zur Weisheit, muss in diesem Sinne als ein ständiges Streben, ein lebenslanges Werben und Bemühen verstanden werden. Im Zeichen des Eros steht nicht mehr, wer glaubt nach einigen Jahren der Beschäftigung und des Fragens nur die Weisheit erlangt zu haben. In diesem Sinne kann Philosophie auch keine Lehre sein, die einmal vermittelt zu einer Art von Besitz wird. Sie ist eine Lebensform, ein berauscht- und verliebt-Sein, im Mythos gesprochen: Ein von Eros ergriffen-Sein.

Platon: Symposion. 197e – 206a