Seneca – Das Glück und die anderen

Seneca der Jüngere, ein römischer Gelehrter des ersten Jahrhunderts, schreibt an seinen Bruder über das glückliche Leben. Die Schrift handelt von den Wegen und Abwegen, die sich demjenigen darbieten, der glücklich werden will – und wer will das nicht?
Spätestens seit Aristoteles ist es eine verbreitete Auffassung, dass alles menschliche Bemühen letztlich auf die εὐδαιμονία, die eudaemonia oder Glückseligkeit gerichtet ist – wir mögen nach Reichtum oder Ruhm, Weisheit oder Freiheit von Zwängen streben, letztlich tun es wir, weil wir uns davon versprechen, dass es uns glücklich macht. Die Glückseligkeit selbst ist kein Zweck, um etwas anderes durch sie zu erreichen. Sie allein wird um ihrer selbst willen angestrebt. Wenn aber darin so große Einigkeit herrscht, warum gibt es dann so gewaltige Unterschiede und Widersprüche in der Frage, wie dieses Ziel, das doch alle Menschen eint, zu erreichen wäre?

Gleich zu Beginn seiner Schrift gibt Seneca eine schlichte Antwort: Durch den Irrtum. Auch wenn alle das gleiche Ziel haben ist der Weg dorthin deshalb noch lange nicht klar – und da uns eindeutige Wegweiser fehlen, bemerken wir unter Umständen lange nicht, dass wir in die falsche Richtung gehen. Hinzu kommt, dass die Menschen dazu neigen, Anderen nachzulaufen, wenn sie unsicher sind, wohin sie sich wenden sollen. Diese Anderen sind mal Einzelne, die weise erscheinen, mal schlicht die Mehrheit, und Seneca warnt: »hier täuschen gerade die ausgetretensten und belebtesten Wege besonders« (Seneca: I.2). Der Masse als »der Wahrheit schlechtestem Deuter« (Seneca: II.2) sollte man, Seneca zufolge, nicht oder zumindest nicht blindlings vertrauen, sondern vielmehr in sich gehen und sich ein eigenes Urteil bilden. Dies, so Seneca, ist nicht nur um unserer selbst Willen tunlich, denn »niemand irrt sich nur für die eigene Person, sondern ist fremden Irrtums Anlaß [sic] und Urheber« (Seneca: I.4). Sobald man also unbedacht der Meinung Anderer folgt, wird man selbst zum Teil der Masse, deren Sog wiederum auf den und die Nächste(n) wirkt und so fort.

Seneca weit hier auf eine Verantwortung hin, die oft außer Acht gelassen wird: Folge ich aus Bequemlichkeit oder Unsicherheit dem nächstbesten Weg, nur weil die Meisten ihn gehen, riskiere ich damit nicht nur, dass ich selbst mich auf dem Weg zu einem glücklichen Leben verirre; Ich verlocke durch mein schlechtes Beispiel auch andere dazu, es mir gleich zu tun. Dies gilt fraglos nicht nur für die Ansichten der Mehrheit, sondern auch für die großen Namen, die ihre Macht und Wirkung ja nicht an sich besitzen, sondern von jenen erhalten, die ihnen folgen. Wer sich immerzu nur auf Autoritäten beruft, gebracht zwar sein Gedächtnis, nicht aber seinen Verstand, soll der große Leonardo da Vinci gesagt haben. Seneca hätte ihm darin gewiss zugestimmt – ich selbst denke lieber nochmal darüber nach, bevor ich mich und Andere ins Unglück stürze.

Vgl. Seneca: Über das glückliche Leben, I–II. Zitiert nach: Rosenbach, Manfred (Hg.): Lucius Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Zweiter Band: Dialoge VII–XII. Darmstadt: WBG, 1971. S. 3 ff