Über Robert Musils Möglichkeitssinn

Nur eine Frage, so schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, lohne das Denken wirklich: jene nach dem rechten Leben.

Nun ist unsere Gesellschaft nicht arm an Vorstellungen, wie dieses rechte Leben auszusehen habe. Unserer Gesellschaftsordnung liegt die Freiheit als zentraler Wert zugrunde und so ist sie ganz im Gegenteil sogar die vielleicht reichste an angebotenen Lebenskonzepten. Pluralisierung der Lebensstile nennt dies die Soziologie.
Mit ihrer Vielseitigkeit, die von eher Konservativen als unheilvolles Chaos beargwöhnt werden mag, verliert die Gesellschaft jedoch keineswegs an Ordnungsmacht, sie spezifiziert sie lediglich für ihre Subsysteme, Klassen, Schichte, Wertcluster – wie immer man sie auch bezeichnet.

Die Vorstellung einer Gesellschaft mit einem einheitlichen Ordnungsprinzip, den christlichen Glaubensgrundsätzen etwa, ist der Auffassung eines sozialen Gefüges gewichen, das vielfältig differenziert ist. So viele Antworten es auf die Frage nach dem rechten Leben in unserer Gesellschaft gibt, die zwar nicht alle, aber zumindest eine Vielzahl von Lebenskonzepte zulässt, so wenig gibt es folglich eine Antwort. Es kann sie ohne streitbare Voraussetzungen nicht geben – und nicht nur Musil bleibt sie uns daher schuldig.
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Am Abgrund

Der Mythos des Sisyphos von Albert Camus

Sisyphos, eine Gestalt der griechischen Mythologie, wurde für seinen Verrat an Zeus dazu verurteilt, für die Ewigkeit einen Felsbrocken einen Abhang hinaufzurollen, der ihm jedoch kurz vor dem Gipfel stets wieder entgleitet, woraufhin er von vorn beginnen muss.
An diesem Beispiel entwickelt Camus seine Gedanken über das Absurde im Leben des Menschen:

Nach Camus hat jedes Gefühl seine Geisteshaltung und Metaphysik, sein eigenes Klima, welches im Falle des Absurden lediglich in den Auswirkungen erkennbar ist. Das Absurde ist nach Camus für jeden erfahrbar und beginnt mit dem Durchtrennen der Kette des steten Gedankenstroms des Alltagslebens, durch den Überdruss als erste Bewusstseinsregung in Form der Frage „Warum?“ und der Erkenntnis, dass das Leben endlich ist. An diesem Punkt besteht zumindest theoretisch die Wahl zwischen der Rückkehr in die „Kette“ und dem freien Fall in das Absurde.
Ein weiterer Schritt in das Absurde ist die Verfremdung der Welt, die als geschlossen, unzugänglich, vom absurden Menschen fremd und unmenschlich erkannt wird; dies schließt alle anderen Menschen mit ein.
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Kopernikanische Charaktere gesucht

Über den Glauben an die Wissenschaft haben wir bereits diskutiert.
Heute geht es mir mehr um seine Ursachen und Wirkung:

Etwas erklären zu können, wirkt ungemein beruhigend. Wenn wir etwas verstehen gibt uns das Sicherheit und eine gewisse Macht darüber. Je mehr die Menschen in ihrer Geschichte über ihre Umwelt gelernt haben, umso weniger mussten sie sich davor fürchten. Nicht von ungefähr gründeten die Menschen in der Antike ihr Weltbild auf die Vorstellung einer Gesellschaft von Göttern, die ebenso rachsüchtig, eifersüchtig, zerstritten und launisch waren wie die Menschen selbst es sind. Es liegt etwas Unberechenbares in dieser Idee, und dies entspricht auch der damaligen Welterfahrung, ein Gewitter, ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben – erschreckende Ereignisse, die heute zwar nicht völlig ihren Schrecken verloren haben, denn schließlich sind wir auch heute noch weitgehend machtlos gegen sie, aber wir verstehen, wie sie entstehen und können sie weitgehend vorhersagen. Eine Sonnenfinsternis, die damals wohl noch die meisten Menschen in Angst und Schrecken versetzt hat, kann heute auf die Minute genau vorhergesagt werden und auch das Auftauchen eines Kometen am Nachthimmel wird eher als ein zu bestauntes und erwartetes Spektakel, denn als ein unheilvolles Zeichen für den Unmut der Götter gesehen.
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Auch unter jenen, die eher dem Fernsehen zugeneigt sind, hält sich ein diffuser Respekt vor dem Medium Buch. In einer Bibliothek wird geflüstert, wie in einer Kirche. Ein Zimmer, das viele Bücher beherbergt flößt zunächst einmal einen gewissen Respekt ein. Belesenheit wird landläufig für eine Tugend gehalten.
Natürlich gibt es gute und schlechte Bücher, solche, die eine Weile Zerstreuung bieten, und jene, die den Leser verändert und bereichert zurücklassen. Einige flößen Angst ein, etwa weil man gehört hat, es sei sehr anspruchsvoll oder gar „unlesbar“; andere meint man ungelesen als Trivialliteratur oder Schund beurteilen zu können.
Es gibt alle möglichen Arten von Bestseller-Listen und leider auch heute noch verbotene Bücher. Die Literaturwissenschaft gibt sich die größte Mühe, einen Kanon von Büchern zu erstellen, welche man (zumindest als Literaturwissenschaftler) gelesen haben muss. Einige davon werden in den Schulen von mäßigen Pädagogen dazu benutzt, jede Begeisterung für Literatur noch vor ihrer ersten Blüte mitsamt der Wurzel auszureißen. Ich selbst glaube, meine Liebe zu den Büchern trotz meines Deutschunterrichts entwickelt zu haben und zucke heute noch zusammen, wenn jemand Effi Briest erwähnt.
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Verständnis und Verstehen, hier im zwischenmenschlichen und nicht philosophischen Sinne gemeint, scheint allgemein ein erstrebenswertes Gut zu sein. Um einen Konflikt mit den Seinen zu beseitigen ist es zumeist notwendig, ihre Position nachzuvollziehen, herauszufinden wie es dazu kommen konnte, dass man etwa eine Situation oder Geste völlig unterschiedlich gedeutet und ausgelegt hat. Verständnisvoll zu sein ist wohl unumstritten eine positive Eigenschaft.

So einhellig die Meinung zu diesem Thema ist, so überraschend und sonderbar scheint der folgende Aphorismus von Arthur Schnitzler:

«Bewahre uns der Himmel vor dem Verstehen. Es nimmt unserem Zorn die Kraft, unserem Haß die Würde, unserer Rache die Lust und noch unserer Erinnerung die Seligkeit.»

Wer Schnitzler ein wenig kennt, weiß, dass er kein Derwisch und Wüterich war, dem Zorn, Haß und das Bedürfnis nach Rache lieb und teuer waren. Wie kommt er also zu einem solchen Ausspruch?
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One ring to rule them all

Man sehe mir den naheliegenden Einstieg nach, denn es soll nicht vom Niedergang Gollums die Rede sein, sondern vom Aufstieg des Gyges vom Ziegenhirten zum Alleinherrscher Lydiens:
Durch eine seismische Anomalie und seine Neugier gelangte er in den Besitz eines goldenes Ringes, der ihm die Macht verlieh, unsichtbar zu werden, wann immer er ihn drehte. Durch diese seltene Gabe wurde er schnell Abgesandter des Königs, hierdurch wiederum noch nicht zufrieden: Er verführte zunächst die Königin und ermordete zuletzt den Regenten selbst, um nach dem Weib auch den Thron für sich zu haben.

Sokrates erzählt diese Geschichte um zu illustrieren, dass die Furcht vor Strafe die eigentlich moralische Haltung sei: Die Ungerechtigkeit, so Sokrates, halte Jedermann für vorteilhafter als die Gerechtigkeit. Wenn er (oder sie) also sicher sein könnte, nicht für begangenes Unrecht zur Rechenschaft gezogen zu werden, würden der augenscheinlich Gerechte und der Ungerechte gleichermaßen ohne Rücksicht nur nach dem eigenen Vorteil streben.
Wenn ein Mensch, dem solche Macht gegeben ist, nie Unrecht täte, so würden die Menschen öffentlich seine Rechtschaffenheit loben, doch insgeheim den Kopf über ihn schütteln.

Wer kennt sich gut genug, um zu wissen, wie er handeln würde, wenn er nicht einmal fürchten müsste, für seine Untaten verachtet zu werden; Wenn kein Gesetz und keine soziale Kontrolle ihn mehr fesseln?
Wer ließe sich nicht von der absoluten Freiheit verführen?

Platon: Politeia, 359c – 360c

Der Glaube an die Wissenschaft

In unserem säkularisierten Staat, in der die christlichen Kirchen immens an Boden verloren hat, scheint es so, als habe sich der Glaube, der einst das Fundament der Gesellschaftsordnung in ganz Europa war, verflüchtigt.
An seine Stelle trat mehr und mehr die Wissenschaft, die ihre unersättlichen Arme nach allem ausstreckte, was zuvor als heilig und unantastbar galt:
Das menschliche Genom ist entschlüsselt (wenn wir auch bislang nur einen Bruchteil davon in seiner Funktion begreifen können), die Psychoanalyse erhellt das tiefe Dunkel unseres Unbewussten und die Neurologen machen herrlich bunte Bilder von unseren Gehirnen bei der Arbeit.
All dies dient dem Erkenntnisgewinn, der jedoch lange schon kein Selbstzweck mehr ist:

All diese Informationen und Verfahren sind wertvoll und gewinnbringend, denn wer kann sich ihrer Wirkung noch entziehen? Wer ihre unglaublichen Verdienste leugnen?
Es ist nur konsequent, wenn ihre Erkenntnisse unser tägliches Leben beeinflussen: strafmildernde Umstände etwa, wie sie die Psychologie in der verpfuschten Kindheit eines Angeklagten findet, sind kaum auszuräumen: Jeder weiß um die entscheidende Bedeutung der kindlichen Entwicklung für das weitere Leben.
Auch wird heute kaum ein psychisch Kranker mehr als schlichtweg hysterisch von seinem Hausarzt mit langen Spaziergängen behandelt. Es gibt unzählige Therapieformen, die stets weiterentwickelt werden. In Fällen, in welchen solche Maßnahmen nicht mehr greifen, bietet die Pharmaindustrie den Betroffenen Möglichkeiten, ein würdiges Leben zu führen, denn unserer besseres Verständnis der fragilen und komplexen Hirnchemie erlaubt ein gezieltes Eingreifen, wenn krankheitsbedingt ein Ungleichgewicht besteht.
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Die Poesie der Philosophie

Wenn Philosophie der liebevolle Umgang mit der Wahrheit ist, wie Dante Alighieri schrieb, dann ist Poesie vielleicht der liebevolle Umgang mit dem Alltäglichen.

Der poetische und in gewisser Weise magische Vorgang, verwandelt ein Objekt oder einen Moment in etwas, das ungleich mehr ist. Es verschmilzt mit dem, was dahinter liegt.
Es liegt etwas metaphysisches darin und nicht zuletzt daher kommt es wohl, dass der Begriff der Epiphanie, der ursprünglich die Offenbarung Gottes bezeichnete, an dieser Stelle in die Sphäre des Profanen und Selbstverständlichen herabgesunken ist.

Der poetische Moment zeigt das Gewebe der Welt als fadenscheinig und abgewetzt, wo es am selbstverständlichsten ist und hindurch schimmert eine Tiefe und Bedeutung, die man nie beobachtet hat. Das Poetische, schreibt Genazino, ist der Gewinn einer Anschauung von etwas, was gleichzeitig als wertlos hätte übersehen werden können.
Oft ist es gerade die Tatsache, dass etwas banal und nur allzu vergänglich ist, die den Betrachter gewissermaßen mit sich hinabzieht und ermöglicht, dass man die Welt von unten, aus der Perspektive eines Objektes sieht, das schutzlos und winzig auf dem Boden der viel wichtigeren Realität liegt, als hätte es jemand dort verloren.
Der Mensch, der einen solchen poetischen Augenblick erlebt, stellt sich plötzlich eine Frage, deren Antwort zu trivial wäre, um sie zu formulieren. Er stellt sie dennoch – und wundert sich.
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Wie viel Toleranz ist eigentlich gesund?

Einer der spannendsten Bereiche der Soziologie ist die Soziologie des abweichenden Verhaltens oder auch der Devianz. Deviant verhält sich, wer Normen und Regeln nicht befolgt, die von einer Mehrheit der Gesellschaft anerkannt, eingehalten und durchgesetzt werden. Solches Verhalten wird sanktioniert, denn keine Gruppe kommt gänzlich ohne Regeln aus, auch kein Syndikat und keine Motorradgang. Im Fall von Gesetzen tut dies eine eigens dazu geschaffene Behörde: die Polizei; in weniger institutionalisierten Gruppen geschieht es normalerweise informell, also durch eine Rüge, ein Auslachen, ein Kopfschütteln.

Man könnte nun denken, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft aus Konformisten besteht, die sich an die Spielregeln halten und denen eine Minderheit von Freibeutern und Verbrechern entgegensteht, doch so einfach ist es nicht: Niemand befolgt alle Normen und niemand bricht sie alle.
Man denke nur an den Straßenverkehr: Wer fährt schon immer völlig StVO-konform? Fast jeder fährt oft und gern ein wenig schneller als erlaubt, trotzdem fliegt kaum jemand mit hundert durch eine geschlossene Ortschaft. Selbst, wenn eine Regel gebrochen ist, ist man nicht frei davon; man zieht im Zweifelsfall eine neue Grenze, fährt 120 statt 100 und bremst brav beim Ortseingang.
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Wozu Kunst?

Die Frage, wozu Kunst denn nun eigentlich gut sei, klingt vielleicht zunächst absurd, doch kommt man nicht daran vorbei, wenn plötzlich vom Ende der Kunst die Rede ist.
Was geht da zu Ende und warum?
Was hat es vorher gemacht und wer hat es sich ausgedacht?
Viele Philosophen haben sich diese Frage gestellt und versucht eine Antwort darauf zu finden, was Kunst ausmacht und was ihr Zweck sei.

Kant oder Schiller etwa haben versucht zu beweisen, dass die Kunst, ähnlich wie die Natur, uns vor Augen führt, dass wir einerseits vergänglich sind, andererseits aber auch an Erkenntnis und Vernunft teilhaben. Dies, so ihre Auffassung, befördert die Selbsterkenntnis und führt letztlich dazu, dass wir besser verstehen, was wir sind.
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