Was geht es uns an, das allumspannende Nichts, in das sich ein Universum ausbreitet, von dem wir kaum etwas wissen und das wir nie sehen werden? Was geht sie uns an, die Leere zwischen den Atomen, die unter dem Blick der Wissenschaftler in immer winzigere Teilchen zerfallen und deren Natur selbst sie nicht recht begreifen?
Trotzdem sind wir gewohnt, dies die Wirklichkeit zu nennen, hard facts der Welterkenntnis Erkenntnisse über eine Welt, die wir nie zu Gesicht bekommen werden, die unerreichbar hoch über uns und in den subatomaren Tiefen von uns so wenig Notiz nimmt, wie wir von ihr. Eine Wirklichkeit, die wir nur von Computermodellen und Schnappschüssen in die Unendlichkeit gerichteter Teleskope kennen.
Nein, es geht hier nicht darum, das Streben nach dem Wissen darüber was die Welt im Innersten zusammenhält zu verspotten. Es geht um die Frage, was es ist, das wir Wirklichkeit nennen und wo wir sie zu finden hoffen: An den äußeren Rändern unserer Erkenntnis oder im Zentrum unseres Erlebens?
»Der Ort«, so Wilhelm Schapp, ein Phänomenologe und Schüler Husserls, »wo wir Wirklichkeit oder letzte Wirklichkeit suchen müßten [sic], wäre das Verstricktsein in Geschichten.«(1) Geschichten, so seine Überzeugung, sind Struktur und Gewebe der Wirklichkeit, in der wir leben.
»Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt«(2), sagt Schapp, und meint damit nicht tragische Verwicklungen sondern schlicht das, was unser Erinnerung und Denken, unser Verständnis der Lebenswelt und von uns selbst ausmacht: überlieferte und selbst erlebte Geschichten. Verstrickt ist man in die Geschichten, deren Teil man geworden ist, ob als Held oder Nebenfigur. Und weil jede Geschichte eine Vorgeschichte hat, weil die Hauptperson der einen zugleich Statist in hundert anderen Geschichten ist, sind auch die Geschichten unter- und miteinander verwoben.
Augenscheinlich wird das bei den großen Figuren der Weltgeschichte, bei Cäsar oder Napoleon: Ihre Geschichten sind bekannt und stechen heraus aber auch sie sind eingebunden in Ereignisse, die sich davor und danach zugetragen haben, Geschichten, die ihre ermöglicht, beeinflusst oder ausgelöst haben. Das Historische ist in diesem Sinne ein Netz aus großen und kleinen Geschichten und jede persönliche Geschichte ist mit ihnen verbunden, wie das Schicksal jedes Einzelnen in das seiner Zeit eingebettet ist.
Schapp zufolge können wir die Weltgeschichte nicht anders denken als eine Struktur aus unzähligen Geschichten und das, was unsere Lebenswirklichkeit ausmacht, ist in gleicher Weise aufgebaut. Bedeutung, Wahrheit, Wirklichkeit können wir immer nur im Zusammenhang unserer Geschichte(n) verstehen und was sich jenseits davon befindet, bleibt uns als Außenwelt entweder verborgen oder rätselhaft. Erst wenn sich das Netz der Geschichten über etwas legt, wird es für uns im Schapp’schen Sinne wirklich: als Teil einer Geschichte.
(1) Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 5
(2) Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 1
Textgrundlage: Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Hamburg: Richard Meiner Verlag, 1953
Hallo Tom,
leider kenne ich Wilhelm Schapp bislang gar nicht. Beim Lesen habe ich jedoch sofort an den Film "Ma nuit chez Maud" (1969) von Éric Rohmer gedacht. In gewisser Weise ist der Film ein Inszenierung der Philosophie Schapps, wo wie ich sie nach diesem kurzen Eindruck verstehe.
Jetzt ließe sich natürlich sagen, dass das natürlich im Grunde jede Geschichte, jeder Film, alles Narrative ist – dann wird das natürlich recht banal.
Aber ich denke, dass der Film ganz spezifisch mit diesem Gedanken zu tun hat, weil es dort letztlich um ein Auseinandersetzung mit der "histoire" ganz allgemein geht. Insbesondere die Frage danach, was "Wahrheit" und "Bedeutung" ist, wird dort auf ganz interessante Weise, eben als der Geschichte – oder vielmehr den Geschichten und damit der Pluralität und der jeweiligen Perspektive – untergeordnet beantwortet. Und das ist eben zunächst einmal ein Form-Problem, kein "moralisches", wie der Film zunächst suggeriert und dann meist auch so gedeutet wird.
Aber um da noch Genaueres sagen zu können, müsste ich wohl erstmal Schapp lesen… und nochmal den Film schauen.
Hallo Sabrina,
schon wieder eine interessante Anregung ich kenne den Film nämlich noch nicht merci bien!
Mir ist Schapp erst spät begegnet, bei meiner Abschlussarbeit. Er ist vielleicht deshalb nicht so bekannt, weil er nicht so epochal und akribisch gearbeitet hat wie Husserl… Seine Schriften sind dafür umso zugänglicher und zumeist ganz unmittelbar einleuchtend. Der Artikel skizziert natürlich nur ein paar Grundgedanken, aber ich wollte Schapp gern vorstellen und eine ungefähre Idee seiner Geschichten-Philosophie vermitteln.
Das Historische bzw. »die Geschichte« versteht Schapp vor allem als aus Geschichten zusammengesetzt, wie unser ganzes Leben erst in Form von Geschichten seinen Sinn (oder vielmehr Plural: Sinne, Bedeutungseinheiten) erhält. Damit betont er natürlich die Subjektivität jeder Art von Bedeutung und die Vielfalt und Wandelbarkeit der möglichen Deutungen: Eine Geschichte ist nie ganz erzählt und nie eindeutig Erinnerungen verändern sich, Erlebnisse werden immer wieder neu und anders gedeutet. Zudem erzählen zwei Menschen nie die selbe Geschichte, selbst wenn sie sie gemeinsam erlebt haben. Überträgt man das zurück auf die Makro-Ebene stürzen Ideen wie eine »historische Wahrheit« in sich zusammen, weil die Geschichte ja nichts anderes ist als die Gesamtheit einer Vielzahl von Geschichten…
Hallo Tom,
dann würde mich sehr interessieren, was Du zu dem Film sagst, wenn Du ihn dann mal gesehen hast.
Ich jedenfalls freue mich nun darauf, Schapp zu entdecken – also merci bien meinerseits! Allerdings werde ich wohl erst dazu kommen, wenn meine eigene Abschlussarbeit abgegeben ist…
Husserl habe ich auch nicht sonderlich intensiv studiert, aber Gemeinsamkeiten sind durchaus erkennbar, insbesondere ja auch deshalb, weil das Verständnis von Wirklichkeit als Pluralität von Geschichten mit einem bestimmten Zeitbegriff einhergehen muss, der dann dem von Husserl vermutlich recht ähnlich ist.
Könnte man es vielleicht so radikal formulieren, dass erst Geschichten Zeit überhaupt für uns erlebbar machen?
Mir erscheint vor allem der Begriff des "Verstricktseins" reizvoll, weil darin sowohl die radikale Subjektivität, der Perspektivismus enthalten ist, als auch das notwendige Verbundensein mit Anderen.