René Descartes‘ »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie« gehören zu den philosophischen Schriften, die den Meisten schon in der Einführungsveranstaltung des Philosophiestudiums für immer verleidet werden.
Natürlich, man sollte schon einmal davon gehört haben, schließlich ist es ein gleichermaßen klassischer und wichtiger Text, kann mit einigem Recht als eine der »Gründungsakten der Neuzeit« bezeichnet werden und hat zudem den Vorteil, dass er einer klaren Argumentationslinie folgt und nicht allzu umfangreich ist. Das Problem besteht allerdings darin, dass den Meditationen ein ganz anderes Verständnis von Philosophie zugrunde liegt, als wir es heute haben, und die immense Bedeutung, die der Text für die abendländische Ideengeschichte hat, nicht mit seiner ursprünglichen Intention übereinstimmt.
Eingequetscht zwischen Platons Höhlengleichnis und Auszüge aus Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand fehlt im Proseminar aber oft die Zeit, tiefer in den Text einzutauchen und ihn im Kontext seiner Entstehung zu begreifen. So bleibt zumeist nicht viel mehr zurück als ein gewisser Widerwille (schließlich wird in den Meditationen Gott beweisen gleich zweimal und doch nicht überzeugend) und eine vage Erinnerung, wie man sie vielleicht von einer Europe in 10 Days-Reise zurückbehält. Kein Wunder also, dass zum Stichwort Descartes Vielen nicht mehr als »cogito ergo sum« einfällt, was zudem auch noch irreführend, wenn nicht schlichtweg falsch ist.
Dabei ist Descartes Anliegen durchaus begreiflich und seine Methode bis heute tief in unser Denken eingeschrieben. Als er die Meditationen 1641 schrieb war Europa von Kriegen und Krisen tief zerrüttet. Zum einen war der Dreißigjährige Krieg in vollem Gange, der im Kern ein Krieg der Konfessionen um den richtigen Glauben war. Zugleich stand etwa Galileo Galilei seit 1633 unter Hausarrest, weil er wissenschaftliche Thesen vertrat, die zwar unter den Gelehrten seiner Zeit weitgehend unstrittig waren, die aber von der katholischen Kirche nicht geduldet wurden. Für Descartes war diese Situation unerträglich und er schrieb die Meditationen mit dem Ziel, die Wissenschaften und den Glauben zu versöhnen und beides auf ein sicheres Fundament zu stellen. Descartes glaubte, auf diese Weise die Grundlage für die verfahrene Situation verändern zu können und eine einheitliche Methode für die Wissenschaften zu entwickeln, die auch mit der Lehre der Kirche in Übereinstimmung zu bringen sei.
Sein Vorgehen leitete er von den antiken Skeptiker ab, deren Philosophie des Zweifelns in seiner Zeit stark rezipiert wurde und für einige Unruhe sorgte. Statt aber in allen Dingen des Lebens immer zu zweifeln, setzte er sie methodisch ein, um ein für allemal eine nicht mehr bezweifelbare Erkenntnis zu gewinnen.
Er schloss also zunächst alles aus, was auch nur manchmal unsichere und falsche Erkenntnisse lieferte. Die Sinne können manchmal trügen, also kann man sie nicht als sichere Quelle ansehen. Im Traum weiß man oft nicht, dass man träumt – und daher könnte auch der scheinbare Wachzustand nur ein Traum sein. Auch die grundlegenden Vorstellungen, die wir von der Natur der Welt haben, müssen nicht unbedingt zutreffen: Unsere Begriffe von Zeit und Raum, Größe und Zahl der Dinge, sind alles andere als gewiss. Letztlich zweifelt er auch die Existenz Gottes an, die für ihn bis dahin die natürlichste und selbstverständlichste Tatsache von allen war: Es ist zumindest möglich, dass nicht Gott, sondern ein mächtiger Dämon ihn geschafften hat und ihn selbst dann noch täuscht, wenn er glaubt, so klar wie irgend möglich zu denken.
Nachdem diese letzte Instanz gefallen ist, muss Descartes einsehen, dass er in absolut allem getäuscht werden kann und er sich weder seiner Sinne noch seines eigenen Körpers, weder der Beschaffenheit der Welt, noch ihrer bloßen Existenz wirklich sicher sein kann. Nur eine Gewissheit ist gegen seinen radikalen Zweifel immun: Solange er denkt »Ich denke, ich existiere!« (cogito, existo!) muss er tatsächlich existieren, denn wenn er nicht existieren würde, so könnte er dies nicht denken. Diese eine Erkenntnis schließt logisch aus, dass sie falsch sein könnte, sie ist die fundamentalste Tatsache, der archimedische Punkt, nach dem Descartes gesucht hat und leitet sich von nichts anderem ab.
Die gängige Formulierung »Ich denke, also bin ich« (cogito ergo sum) beschreibt etwas anderes: Sie ist eine Schlussfolgerung nach dem Muster, was denkt, existiert ich denke also muss ich folglich existieren. Ich müsste also vorher schon wissen, dass alles was denkt auch existiert. Solche vorgängigen und allgemeinen Gesetze hat Descartes aber bereits als ungewiss verworfen.
Worin besteht also nun das Erbe René Descartes‘, was macht seine Meditationen so wichtig für alle Denker nach ihm? Den gewünschten Frieden, die Einheit des Glaubens und die Harmonisierung von Kirche und Wissenschaft hat er nicht bewirken können. Es sind nicht seine Gottesbeweise, die er in den späteren Meditationen geführt hat und um deren Schwächen er sehr wohl selbst wusste. Auch die Fundamentalerkenntnis des cogito, existo! hat die Zeit nicht ganz unbeschadet überstanden was bis heute die Wirkung Descartes‘ ausmacht ist das grundlegende Prinzip der Meditationen, der Rationalismus, der heute kaum mehr aus der Philosophie wegzudenken ist: das reine Denken, in dem das Subjekt allein vermöge seines Verstandes seine Welt erkennen oder hinterfragen kann. Nicht die Erfahrung, sondern die absolute Rationalität des unabhängigen Individuums ist demnach die Quelle von sicherem Wissen. Diese Auffassung von Erkenntnis und des Denkens selbst wurde für die Neuzeit prägend und Descartes hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Die Tragweite und der Einfluss seiner Meditationen sind unbestritten doch daran, ob der Rationalismus wirklich das universell gültige Prinzip sicheren Wissens gefunden hat, darf mit einigem Recht auch weiterhin gezweifelt werden.
Textgrundlage: Gäbe, Lüdger (Hg.): René Descartes. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1960. S. 15-30: I. und II. Meditation